Im Labor Human.VR.Lab der Berliner Hochschule für Technik (BHT) hängen 16 Spezialkameras an der Decke. Sie formen einen Kreis. Darunter, in der Mitte des Raums, wirft sich ein Mitarbeiter des Forschungsprojekts BIOKIT in Pose. Er streckt zum Beispiel beide Arme aus oder macht eine Kniebeuge. Die Kameras, die im visuellen und im Infrarotbereich arbeiten, registrieren jede Regung. Dies geschieht millimetergenau mithilfe von weißen Kügelchen am Anzug, den der Protagonist trägt. Die Kameras erkennen die Position, während ein Computer daraus in Echtzeit ein dreidimensionales Abbild am Monitor ausgibt. Das Motion-Capture-Verfahren, das ansonsten in Hollywood digitale Figuren zum Leben erweckt, funktioniert bereits während des Tests an diesem Tag.
Modell des Menschen
Im Forschungsprojekt BIOKIT wollen die Wissenschaftler*innen ein System für den Gesundheitssektor entwickeln, mit dem sich Erkrankungen des Bewegungsapparats behandeln lassen. Konzipiert ist es ergänzend zur Physiotherapie. Die Software, die mit Künstlicher Intelligenz (KI) arbeitet, soll menschliche Bewegungen erkennen und mit gesunden Referenzbewegungen abgleichen. Ausgehend von dieser Analyse soll sie Patient*innen therapeutisch anleiten können. „Ich bin erstaunt, dass es ein vergleichbares System noch nicht gibt“, sagt Projektleiter Prof. Dr. Ivo Boblan, Fachbereich VII. Schließlich zählten orthopädische Erkrankungen hierzulande zu den häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit. Gleichzeitig gebe es in diesem Gesundheitsbereich eine Versorgungslücke.
Für BIOKIT ist die BHT eine Kooperation mit der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin) eingegangen. Im Fokus des Projekts, das vom Institut für angewandte Forschung (IFAF) gefördert wird, stehen die technischen Grundlagen. So müssen die Forscher*innen ein digitales Modell des Menschen erstellen, das Knochen und Muskeln abbildet und mit dem sich Bewegungsabläufe simulieren lassen. Außerdem arbeitet das Team im Human.VR.Lab an einem verlässlich funktionierenden Trackingsystem. Es erfasst die Positionen des menschlichen Körpers, wofür die Kügelchen am Anzug erfasst werden. Kleine Kästchen, ebenfalls an der Kleidung befestigt, messen Beschleunigung und Bewegungsrichtung der Extremitäten. Außerdem steht der Protagonist auf einer Kraftmessplatte, die die Druckpunkte während der Regungen bestimmt. Mit dem Messgerät ist der Professor unzufrieden. „Die Daten, die wir erhalten, sind noch nicht valide“, klagt Boblan. Auch funktioniere die Synchronisierung aller Sensoren noch nicht wie gewünscht.
Demonstrator geplant
Das Trackingsystem muss exakt arbeiten, da die Daten beim Trainieren der KI die Referenz bilden. Außerdem benötigt das biomechanische Modell, das erstellt werden soll, ebenfalls akkurate Angaben. Der geplante Demonstrator, der als Resultat von BIOKIT geplant ist, wird auf allen diesen Erkenntnissen basieren. Er wird daher ohne die umfangreiche Sensorerfassung auskommen und wesentlich kompakter ausfallen. Funktionieren muss nach Angaben des Professors jedoch die „automatisierte Prozesskette“. Gemeint ist der verlässliche Praxiseinsatz. „Der Mediziner drückt einmal auf den Knopf und das System macht den Rest: Bewegung erfassen, mit der Referenz abgleichen und Hinweise geben.“ Damit die Software weiß, wie eine gesunde Bewegung überhaupt aussieht, will das BIOKIT-Team demnächst einen Gesundheitsexperten einladen. Er soll Übungen für die Therapie von unterschiedlichen Erkrankungen demonstrieren, die als Referenzmuster getrackt werden.
Im Anschluss steht auf der Agenda das Training der KI-Software, das die HTW Berlin übernimmt. In einem umfangreichen Praxistest sollen dafür 100 Menschen mit dem Trackingsystem im Human.VR.Lab erfasst werden. Die Teilnehmer*innen, die hintereinander mit den Sensoren ausgestattet werden, müssen alle dieselben Bewegungen absolvieren, die jeweils vom System mit den Referenzbewegungen abgeglichen und analysiert werden. Die Herausforderung für die Software: „Jeder Mensch sieht anders aus, dünn, dick, klein, groß, unterschiedliche Proportionen“, sagt Ivo Boblan. Mit Methoden des überwachten Lernens solle die KI lernen, basierend auf den Trackingdaten und der biomechanischen Simulation, die Bewegung in Echtzeit zu analysieren. Der Professor hofft, dass das BIOKIT-System eines Tages in Arztpraxen und Kliniken zum Einsatz kommen werde, um das Personal zu entlasten und den Patient*innen zu helfen. Die Spezialkameras und die Messsysteme, wie sie an der BHT gegenwärtig zum Einsatz kommen, seien dann nicht mehr notwendig, genauso wie der Anzug mit den befestigten Kügelchen.
Das Projekt: BIOKIT
- Laufzeit: 01.09.2023 bis 31.08.2025
- Leitung: Prof. Dr. Ivo Boblan (BHT), Prof. Dr. Stephan Matzka (HTW Berlin), Prof. Dr. Elisabeth Eppinger (HTW Berlin)
- Förderung: IFAF Berlin, 250.000 Euro
- Weitere Partner: Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM, trinitas Therapie. Bewegung. Sport. GmbH