Kaum ein Thema prägt die Debattenkultur in Deutschland so sehr wie der demografische Wandel. Das Statistische Bundesamt macht deutlich: Jede zweite Person in der Bundesrepublik ist älter als 45 Jahre, jede fünfte älter als 66 Jahre, Tendenz steigend. Im Jahr 2030, so die Prognose, könnte mehr als ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein. Die Folgen spüren wir schon heute: In vielen Branchen fehlen Arbeitskräfte und das Gesundheitssystem wird immer stärker belastet. Ein möglicher Lösungsansatz: Künstliche Intelligenz (KI). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bezeichnet KI als eine der Schlüsseltechnologien für Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Allein in der laufenden Legislaturperiode will das Ministerium mehr als 1,6 Milliarden Euro in das maschinelle Lernen investieren.
Wie eine Zukunft mit KI konkret aussehen könnte, erforscht Prof. Dr. Felix Alexander Gers, Fachbereich VI. Der Experte für maschinelles Lernen ist Sprecher des interdisziplinären BHT-Forschungsprogramms „Berliner Initiative für Forschung im Bereich Foundation Models“, beziehungsweise „Appl-FM“ – Abkürzung des englischsprachigen Programmtitels „Berlin Initiative for Applied Foundation Model Research“. Die Initiative ist aus einem Förderinstrument der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hervorgegangen, den sogenannten Forschungsimpulsen (FIP). Das Fördervolumen beträgt fünf Millionen Euro, die Förderdauer zunächst fünf Jahre. Ziel des Programms: KI so schnell wie möglich in die Anwendung bringen.
Von der Forschung in die Anwendung
„Kern des Forschungsvorhabens ist die anwendungsorientierte Grundlagenforschung zu Foundation Models“, leitet Gers ein, also zu Computermodellen, die durch Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen gezielt trainiert werden. ChatGPT basiert beispielsweise auf dieser Technologie. Die Anwendung ist darauf trainiert, Muster in Texten zu erkennen und Beziehungen zwischen Worten und Wortgruppen herzustellen. Je mehr Text oder Daten das Modell erhält, desto mehr Beziehungen und Muster erkennt es. Die Anwendung lernt, menschliche Sprache nachzuahmen. Foundation Models (FM) können auch Beziehungen in akustischen, visuellen oder räumlichen Daten erkennen, also sehen, hören oder Bewegung lernen. Genau daran arbeitet das BHT-Team und bringt die Forschung direkt in die Anwendung: Die Vision ist, dass selbstständig lernende Roboter fehlendes Personal ausgleichen und Systeme des maschinellen Lernens Ärzt*innen bei der Diagnostik unterstützen.
Die Erforschung von Foundation Modells ist an der BHT kein Neuland. Neu und innovativ ist jedoch die Arbeitsweise in einer relativ großen und interdisziplinären Gruppe. Das Appl-FM-Team besteht aus zehn Forschenden. Sie kommen aus der Mikrobiologie, der Biochemie, aber auch aus der Datenwissenschaft, der Robotik und der Informatik. Drei Anwendungsbereiche bilden den Kern von Appl-FM:
Aus der Arbeit in den Anwendungsbereichen ergeben sich Herausforderungen und Fragen zum methodischen Vorgehen. Diese Fragen sollen durch Forschung an den vier Basistechnologien beantwortet werden: Kontinuierliches Lernen, Sehen und Bewegungserkennung, Robustheit, Fairness und Erklärbarkeit, Lernen und Anpassung von Textdaten.
Smarte Lösungen
„Ein Kreislaufmodell, in dem sich alle Forschenden auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können und von den Ergebnissen der anderen profitieren“, erläutert Gers. So schlägt die Gruppe zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie erarbeitet konkrete Lösungen für die Anwendungsbereiche und treibt die Grundlagenforschung zu den Basistechnologien der KI voran, die wiederum für neue Anwendungen genutzt werden können.
„In der quantitativen Biologie arbeiten wir an smarten Mikroskopen, die selbstständig Zellkulturen auf bestimmte Veränderungen untersuchen. Ein solches Mikroskop muss in der Lage sein, Zellkulturen zu erkennen und zelluläre Vorgänge zu identifizieren. Außerdem muss es Information speichern und ergänzen können“, verdeutlicht Gers den Zusammenhang von Anwendungsbereich und Basistechnologie. Ähnliches gilt für die Robotik und die Medizin: „Wir entwickeln Computermodelle, die es humanoiden Robotern ermöglichen sollen, Bewegungsabläufe durch eigene Wahrnehmung zu erlernen“, so Gers – beispielsweise mithilfe von Bewegungsdaten aus frei verfügbaren Videos. „Ein Roboter soll aber nicht nur sehen und sich bewegen, er soll auch kommunizieren und Sprache verstehen.“
Eine Frage der Kommunikation
Im Bereich der Prädiktiven Medizin entwickelt das BHT-Team Computermodelle, die selbstständig Symptome, Vorbefunde und sogar CT- und Röntgenbilder auswerten – schnell und präzise. Die KI soll medizinisches Personal unterstützen und entlasten, indem sie Differenzialdiagnosen erstellt, also Beurteilungen, die neben der Verdachtsdiagnose in Betracht gezogen werden. „Natürlich müssen medizinische Diagnosen robust sein“, sagt Gers. Die KI muss erklären können, warum sie zu bestimmten Schlussfolgerungen kommt.
„Komplexe Fragestellungen lassen sich nur in heterogenen Teams beantwortet“, fasst Gers die Idee hinter dem FIP-Programm „Berliner Initiative für Forschung im Bereich Foundation Models“ zusammen. Die fachübergreifende Expertise diene nicht nur der effizienteren Zusammenarbeit, sondern sei aufgrund des interdisziplinären Anspruchs der KI-Forschung unabdingbar. Teamwork als logische Konsequenz für die anwendungsorientierte Entwicklung von Foundation Models.
Geballte Forschungspower
Gers selbst hat Physik studiert, im Nebenfach Biophysik. Daher fühle er sich auch in der Biologie nicht fremd, könne durchaus verstehen, wenn ihm eine Expertin etwas über Zellen erklärt – keine Selbstverständlichkeit. Die Zusammenstellung der Forschungsgruppe setzt ein gestiegenes Maß an Kommunikation und Motivation voraus. Die Mitglieder treffen sich dafür wöchentlich. „Das ist mit Aufwand verbunden“, räumt der Physiker ein und ergänzt: „Aber so wird’s auch nie langweilig. Wenn wir uns nach einer Woche treffen, ist bei einigen in der Gruppe wieder so viel passiert, wir machen große Schritte.“
Ob intelligentes Mikroskop, Diagnosetool oder selbstlernender Roboter – das Know-how und die Technologie sind an der BHT bereits vorhanden. Damit sie in Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich zum Einsatz kommen, bedarf es nun der langfristigen Forschung und dem Training von KI-Anwendungen. Der Forschungsimpuls macht’s möglich. „Aus dem Programm heraus wollen wir ein Forschungsinstitut gründen, an dem das Promotionsrecht für die BHT verankert werden soll“, sagt Gers. Das sei wichtig, um eine nachhaltige Forschungslandschaft an der BHT zu etablieren und an den Herausforderungen der Zeit arbeiten können. Stichwort: Fachkräftemangel. Mit so viel geballter Forschungspower, so scheint es, lässt sich der demografische Wandel jedoch gleich leichter in den Griff bekommen.
Hintergrund: Forschungsimpulse
Mit den Forschungsimpulsen (FIP) hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Förderinstrument geschaffen, das sich an besonders forschungsorientierte Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) richtet. Ziel des Programms ist es, die Potenziale der HAW für die Wissenschaft stärker zu erschließen. Die Ausschreibung fand 2023 zum ersten Mal statt. Insgesamt wurden 69 Anträge eingereicht.
Autor: Lenn Sawade