Virtual-Reality-Brille aufgesetzt, Controller in beide Hände und schon geht es los: Nicolás Sias sieht ein simuliertes Mikrobiologie-Labor. „Die Umgebung fühlt sich sehr real an“, sagt der Student während des Laborpraktikums im Bachelorstudiengang Biotechnologie am Fachbereich V. Mit der Hand greift er ein Zentrifugenröhrchen aus Bits und Bytes. Dann nimmt er ein Milchglas vom Regal. Mit der Drehbewegung seines Handgelenks fließt die Milch in das Röhrchen. Das Programm teilt ihm daraufhin mit, dass er jetzt das Lab-Enzym hinzufügen solle. Schritt für Schritt arbeitet sich Sias vor, bis er schließlich Mozzarella-Käse hergestellt hat. „Die einzelnen Aufgaben sind verständlich dargestellt“, schildert der Student die virtuelle Erfahrung, die nur rund 15 Minuten dauerte. Später wiederholt Nicolás Sias den Versuch in einem realen Labor. Der Zeitaufwand: mehr als zwei Stunden.
Bei der virtuellen Übung mit dem Titel „Biotechnologische Verfahren in der Produktion“ handelt es sich um die erste Anwendung, die aus dem Forschungsprojekt Interaktive Lehre in virtuellen MINT-Laboren (MINT-VR-Labs) hervorgegangen ist. Ein interdisziplinäres Team der Berliner Hochschule für Technik (BHT) arbeitet darin an simulierten Laboren und digitalen Lehr- und Lerninhalten. Mithilfe des Projekts, gefördert von der Stiftung „Innovation in der Hochschullehre“ mit 1,9 Millionen Euro, soll Virtual Reality (VR) und auch Augmented Reality (AR) ein fester Bestandteil der Lehre werden. Zukünftig sollen Studierende mit ausleihbaren VR-Headsets und AR-fähigen Tablets üben und lernen können, losgelöst von echten Laboren, die sie ergänzen sollen.
Vorteile der Virtualität
„Die Virtualisierung bietet die Chance, die Studierenden auf ein einheitliches Wissensniveau zu bringen“, sagt Projektleiter Prof. Dr. Steffen Prowe, Fachbereich V. Das Vorwissen unterscheide sich oftmals sehr, weswegen einzelne Studierende mehr Zeit für Laborübungen bräuchten. „In der virtuellen Welt lassen sich die komplexen Abläufe ohne Zeitdruck und beliebig oft trainieren“, sagt der Mikrobiologie-Professor. Entscheidend sei auch das unmittelbare Erleben über die VR-Brille, mit der die Studierenden in die computergenerierte Welt regelrecht eintauchen können. Zusammen mit eingebundenen Quiz-Spielen, Hilfestellungen und Erklärungen lade die Umgebung zum Erkunden ein. Digitale Labore können nach Angaben des Forschungsteams nachhaltiger, ressourcensparender und deswegen günstiger als ihre echten Pendants sein. In der Pixelwelt dürfen Glasbehälter zu Bruch gehen, Versuche fehlschlagen, teure Substanzen verschwendet werden. Vorstellbar sind auch Experimente, die normalerweise lebensgefährlich wären, etwa mit Starkstrom oder radioaktiver Strahlung.
In der Lehre ist mit der „Beanspruchungsanalyse theatertechnischer Installationen“ bereits eine zweite VR-basierte Lernumgebung im Einsatz. Sie richtet sich an Studierende im Studiengang „Theater- und Veranstaltungstechnik und -management“, Fachbereich VIII, die sie unterstützen soll, die Balkentheorie der Technischen Mechanik zu erlernen. Die virtuelle Lernumgebung basiert auf einem Prototypen, der im Sommersemester 2021 in Kooperation mit der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft von Studierenden in einer Lehrveranstaltung von Prof. Dipl.-Ing. Stephan Rolfes, Fachbereich VIII, entwickelt wurde. Zu sehen ist darin eine Laststange, die in einem Theater an der Decke hängt. Die Aufgabe besteht darin, Equipment daran zu befestigen, beispielsweise Lautsprecher und Beleuchtung. Der Querträger darf nicht überlastet werden, da er sich sonst verbiegen und durchbrechen könnte. Die auf die Traverse wirkenden Kräfte sind über das VR-Headset farblich dargestellt, berechnet anhand mathematischer Modelle. Je rötlicher, desto größer die Belastung. „Die Simulation bietet zusätzlichen Nutzen im Vergleich zu einem normalen Labor“, erläutert Prof. Dr. Joachim Villwock, Fachbereich VIII, der für die technische Umsetzung im Projekt MINT-VR-Labs zuständig ist.
Zehn Module
„Virtuelle Realität allein des Effektes wegen reicht als Grund nicht aus, um virtuelle Lerninhalte zu erstellen“, erklärt Prowe. Neue Module müssten Wissen vermitteln und didaktischen Mehrwert bieten. Umso wichtiger sei es, den Nutzen der virtuellen Angebote zu analysieren, zu bewerten und zu verbessern. So wurde beispielsweise der VR-Einsatz im Biotechnologie-Laborpraktikum evaluiert. Das Team teilte dazu die Studierenden auf. Eine Experimentalgruppe stellte Mozzarella in der virtuellen Welt selbst her. Die Kontrollgruppe sah den Ablauf in einem Video. Anschließend füllten alle Studierenden Fragebögen zu ihren Lernerfahrungen aus. Nach einer Pause führten sie den Mozzarella-Versuch im realen Labor durch, wobei sie vom Evaluationsteam beobachtet wurden. Auch einen Wissenstest beantworteten die Studierenden. Mit den Untersuchungen will das Team herausfinden, ob das Üben in der Pixelwelt real eine souveränere Versuchsdurchführung und einen besseren Lernerfolg zur Folge hat.
Zurzeit arbeitet das Team an einem neuen Modul aus dem Bereich Mathematik. Von der „Darstellung und Analyse dreidimensionaler Funktionen“ existiert bislang nur ein Prototyp, der einen spielerischen Zugang in das abstrakte Thema bieten soll. Das Angebot entsteht in enger Abstimmung mit Mathematik-Professorin Katharina Höhne, Fachbereich II, und dem ausführenden IT-Dienstleister Breakpoint One. Die Entwicklung folgt dem Prinzip: verstehen, entwickeln, evaluieren.
Bis zum Projektende im Jahr 2024 sollen insgesamt zehn Module entstehen, die alle möglichst schnell in die Lehre integriert werden. Nach der Fertigstellung ist angedacht, die Praxismodule in die Hände der Fachbereiche zu übergeben, die sie weiterentwickeln und aktuell halten sollen. Professor Prowe und sein Team binden deswegen sowohl Lehrende und Mitarbeiter*innen als auch am Projekt beteiligte studentische Hilfskräfte eng in die Entwicklung ein. Auf diesem Weg sollen die neuen VR- und AR-basierten Lernumgebungen dauerhafter Bestandteil der Lehre an der Hochschule werden.